In Deutschlands Unternehmen fehlen nach Berechnungen des Digitalverbandes Bitkom rund 137.000 IT-Expertinnen und Experten quer durch alle Branchen. Auf dem Arbeitsmarkt sind die fehlenden Fachkräfte immer schwerer zu finden. Nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Civey mit über 1000 Führungskräften, die Entscheidungen zu Personal- oder IT-Themen treffen, könnte eine Umschulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das größte Potenzial zur kurzfristigen Behebung des IT-Fachkräftemangels darstellen. Die Studie wurde vom Bildungsanbieter „Neue Fische – School and Pool for Digital Talent“ in Auftrag gegeben.
In der Umfrage bezeichnete nur jedes fünfte Unternehmen die Rekrutierungslage auf dem freien Arbeitsmarkt als gut. Für 55,2 Prozent der befragten Führungskräfte stellt sich die Lage hingegen „eher schlecht“ oder „sehr schlecht“ dar. In den Ballungsräumen sind es sogar 59,6 Prozent. Ein Ausweg: die eigenen Beschäftigten für neue Aufgaben zu qualifizieren, auch wenn die bislang in anderen Abteilungen gearbeitet haben. Zumindest hält dies gut ein Drittel der Führungskräfte (38,6 Prozent) genau das für den sinnvollsten Weg – noch vor der Anwerbung von IT-Fachkräften im Ausland (30,2 Prozent) oder der Anwerbung von Fachkräften verwandter Disziplinen (28,5 Prozent).
In der Praxis fällte es den Unternehmen allerdings schwer, diesen Vorsatz umzusetzen: 56,6 Prozent der befragten Unternehmen haben in den vorausgegangenen zwölf Monaten keinen einzigen Mitarbeitenden anderer Abteilungen umgeschult, um mit Hilfe einer Neuqualifizierung den Bedarf an IT-Fachkräften zu decken. In Ballungsräumen fallen diese Zahlen noch schlechter aus: Hier konnten über 62 Prozent nicht einen einzigen Mitarbeitenden für neue, digitale Aufgaben fit machen.
In einem Pressegespräch zur Vorstellung der Studie sprach sich die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (Linke) für einen Kurswechsel in der Bildungspolitik aus. Den IT-Fachkräftemangel in Deutschland gebe es schon seit vielen Jahren. „Dennoch wurde versäumt, mit einer langfristigen Strategie daran etwas zu ändern: Die politischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer digitalen Gesellschaft wurden nicht geschaffen, wir haben mehr Funklöcher als andere Länder und weniger Glasfaser, es fehlt flächendeckend an Digitalkompetenz – in allen Berufen, in allen Generationen. Die digitale Verwaltung steckt noch in den Kinderschuhen, das digitale Gesundheitswesen kommt nicht voran, es fehlt überall an IT-Fachkräften und Digitalkompetenz“, sagte die Digitalisierungsexpertin.
- „In einer Welt, die sich immer schneller und immer weniger vorhersagbar verändert, brauchen wir mehr Problemlösungskompetenzen und mehr Resilienz. Dafür braucht es wiederum Vielfalt und alle Talente“, sagte die Netzaktivistin. Deutschland sei schlecht darin, alle Talente zu fördern. „Wir reden viel von Auslandsrecruitierung, aber zu wenig von Alltagsrassismus, von mangelnder Integration hier lebender Migrant:innen, von Bildungsbenachteiligung durch den familiären Hintergrund. Wir müssten nicht im Ausland nach Fachkräften suchen, wenn wirklich alle hier lebenden Menschen beste Chancen bekämen, um hier zu lernen und zu arbeiten, wenn es eine flächendeckende Willkommenskultur gäbe.“
Domscheit-Berg konstatierte, das deutsche Bildungssystem wecke kaum Begeisterung für MINT-Berufe. „Es fehlt an modernen Methoden, an guten Inhalten, an qualifizierten Lehrkräften, oft immer noch selbst am Internet und an Geräten. Digitale Bildung ist nicht einmal überall Pflichtbestandteil der Lehrkräfteausbildung. Informatik ist in vielen Ländern kein Pflichtfach, Informatiklehrkräfte sind so rar wie Goldstaub, der Unterricht oft öde. Für echte Reformen muss das Grundgesetz erneut geändert werden, um mehr Kooperation zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen zu ermöglichen. Es braucht eine Aus- und Weiterbildungsoffensive und eine völlig andere Ausrichtung von Bildung, sonst reden wir in 20 Jahren weiter von IT-Fachkräftemangel.“
Niklas Heimbokel, Director IT Digital Talents bei der Hapag-Lloyd AG, sprach sich wie Domscheit-Berg für eine bezahlte Bildungszeit iin Deutschland aus. Das sei ein sinnvolles Modell, das zeige sich bereits in Österreich. „Bisher war eine Umschulung oft mit hohem persönlichem Risiko verbunden und nur wenigen Menschen mit beispielsweise entsprechenden finanziellen Puffern vorbehalten.“ Durch eine staatliche Förderung werde der Zugang zu Umschulungen und damit die Möglichkeit eines (fachfremden) Quereinstiegs für mehr Menschen ermöglicht.
Julia Bangerth, COO bei DATEV eG, sagte, Lernen sei in Zeiten immer höherer Transformationsdynamik die wichtigste Schlüsselkompetenz – für Menschen wie Organisationen. „Deswegen müssen wir in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gemeinsam Lernkompetenz fördern, attraktive und vernetzte Lernangebote schaffen und die Notwendigkeit von lebensbegleitendem Lernen allen bewusst machen.“
Für die Studie wurden om 03.02. bis 16.2.2023 wurden privatwirtschaftliche Führungskräfte, die über Personal- oder IT-Themen entscheiden, befragt. Die Stichprobengröße betrug 1.001.