EdX ist eine führende Kursplattform mit über 48 Millionen Lernern. Unser Autor Julius Berrien hat für den elearning Report mit EdX-Gründer Professor Anant Agarwal über Bildung im “Lego-Stil”, die optimale Länge von Lehrvideos, künstliche Intelligenz und die Zukunft der Hochschulbildung gesprochen.
Könnten Sie für unsere Leser kurz die Gründungsgeschichte von EdX erzählen?
Ich lehre Elektrotechnik und Informatik am MIT und an der Harvard Universität. Die beiden Universitäten haben 2011 ein Lernportal ins Leben gerufen, um ihr Kursangebot einem viel größeren Kreis an Lernenden zugänglich zu machen.
Wir wollten ein Harvard und ein MIT für die ganze Welt schaffen.
Zu Beginn wurden nur Kurse von Harvard und MIT über EdX veröffentlicht. Bald schon erreichten uns jedoch Anfragen von Universitäten wie Berkley und der University of Texas at Austin. Heute bieten über 230 hochrangige Institutionen, darunter Top-Universitäten aus Deutschland, wie die TUM oder die RWTH Aachen, Kurse über EdX an.
Wir haben das alles auf einer Open-Source-Plattform namens Open EdX aufgebaut.
Wie haben Sie diese Plattform entwickelt?
Nachdem wir uns eine Weile mit existierenden Plattformen beschäftigt hatten, beschlossen wir, eine völlig neue Plattform zu bauen. Für uns stand fest, dass unsere Plattform Cloud-basiert und Video-zentrisch sein sollte. Keine bereits vorhandene Plattform ermöglichte uns die Dimensionen, die uns vorschwebten.
Bei der Entwicklung von EdX kamen mehrere faszinierende Technologien zusammen: Cloud Computing, Videoübertragung im großen Maßstab, soziale Netzwerke und Mobile Computing. Zusammen ergaben diese vier Technologien das perfekte Bündel, um eine digitale Bildungsplattform für die ganze Welt zu bauen.
Wie viel hat die Entwicklung von EdX gekostet?
MIT und Harvard investierten gleich zu Beginn 16 Millionen Dollar in die Plattform. Später investierten sie noch mehr, während der ersten Jahre stand uns jedoch dieses Gründungskapital von 16 Millionen Dollar zur Verfügung, um EdX auf das nächsthöhere Level zu bringen.
Wie stellen Sie sich die Zukunft von Universitäten und Schulen vor? Welche Rolle werden MOOCs dabei spielen?
Die Kurse auf EdX heißen MOOCs, Massive Open Online Courses, weil es sich um sehr große Kurse handelt, die kostenlos jedem zugänglich sind. Der allererste Kurs auf EdX war ein Kurs über Elektronik und Schaltkreise, den ich mit Kollegen vom MIT unterrichtete. Der Kurs hatte 154.000 Teilnehmer aus 162 Ländern. Davon schlossen ungefähr 7200 Teilnehmer den Kurs erfolgreich ab. Im Vergleich dazu können wir auf dem Campus jedes Jahr etwa zweihundert bis dreihundert Studenten unterrichten.
Für mich als Professor war es eine unglaubliche Erfahrung, eine so große Wirkung zu haben. Um offline eine vergleichbare Wirkung zu erzielen, hätte ich 30-40 Jahre lang Vorlesungen halten müssen. Nach dieser Erfahrung war es für mich nicht leicht, wieder kleine Seminare zu halten.
Um Ihre Frage genau zu beantworten, es besteht Bedarf sowohl nach MOOCs als auch nach Präsenzveranstaltungen. Man kann auf keines der beiden Lernformate verzichten, da jedes ganz eigene Vorteile hat.
Ich glaube, dass die Zukunft dem Blended Learning gehört, bei dem Online- und Offlinelehre sich gegenseitig ergänzen.
In Zukunft wird ein Student wahrscheinlich sowohl Vorlesungen auf dem Unicampus besuchen, als auch an Online-Kursen anderer Hochschulen teilnehmen. An der DY Patel Universität in Indien erhalten Studenten schon heute neben ihrem Bachelorabschluss ein Zertifikat von EdX und seinen Partnern, wie Berkley und der UT Austin. Damit können die Absolventen Arbeitgebern zeigen, dass sie neben ihrem Uniabschluss auch Anwenderwissen aus den EdX-Kursen haben.
Glauben Sie, dass Universitäten in Zukunft Inhalte viel stärker untereinander teilen werden, anstatt alles selbst zu erstellen?
Das ist meine Hoffnung. Leider geschieht es noch nicht so oft, wie ich es mir wünschen würde. Gegenwärtig produziert jede Universität noch ihren gesamten Content selbst, was weder für die Universität noch für die Studenten gut ist. Als Student ist man immer noch auf das Angebot der eigenen Universität beschränkt.
Durch digitales Lernen werden Studenten in Zukunft jedes Fach von den besten Professoren und an den besten Universitäten weltweit lernen können.
Ein solches Sharing-Modell, bei dem Universitäten sowohl eigene Programme anbieten, als auch fremde Inhalte teilen, kann für alle Seiten sehr gewinnbringend sein.
Ist es denkbar, dass Studenten in Zukunft digital an mehreren Universitäten gleichzeitig studieren werden und am Ende einen Abschluss erhalten?
Das geschieht bereits. Beispielsweise bietet EdX in Partnerschaft mit der University of North Carolina einen MBA an. Als Bestandteil des MBAs durchlaufen die Studenten ein Python Bootcamp, das von EdX erstellt wurde. Weitere Beispiele sind der Micromasters in Supply Chain Management vom MIT sowie der Online-Masterabschluss in Supply Chain von der Arizona State University. Die Lernenden absolvieren den Micromasters vom MIT und satteln den Arizona-State-Abschluss oben drauf. Dieses “Draufsatteln” wird bereits vielfach praktiziert.
Studieren wird zunehmend modular und “stapelbar”. Ich bezeichne das als “Bildung im Lego-Stil”.
Die Legoblöcke können von der gleichen Universität stammen, die den Universitätsabschluss verleiht, oder auch von anderen Universitäten.
Durch MOOCs können Hochschulen theoretisch jeden Bewerber zulassen. Wie können Zugangsbeschränkungen dann noch gerechtfertigt werden?
Ein Studium kostet Zeit und Geld. Ohne Aufnahmetests könnten Studenten ein Studium beginnen, auf der Hälfte der Zeit aber merken, dass sie für dieses Fach gar nicht geeignet sind. Aufnahmestandards helfen, sicherzustellen, dass nur geeignete Bewerber zugelassen werden.
Es hängt zudem vom Konzept der Universitäten ab. Einige Universitäten möchten große Studiengänge haben, um jeden Bewerber aufnehmen zu können. Andere Hochschulen bevorzugen kleine Kurse mit besserem Betreuungsverhältnis. Auch bei Online-Abschlüssen kann es darauf ankommen, wie viele Studierende auf einen Professor kommen. Online-Studiengänge können zwar hundertmal größer sein, als traditionelle Campusstudiengänge, es können sich aber trotzdem praktische Beschränkungen ergeben, wenn die Universität eine gutes Betreuungsverhältnis sicherstellen will.
Es stimmt allerdings, dass Online-Programme den Zugang zu Universitäten enorm erleichtern. Früher wussten wir manchmal kaum, wie wir von den 1000 oder 10.000 geeigneten Bewerbern die 30 oder 40 besten auswählen sollten. Egal, wie gut die Kandidaten waren, wir konnten nur die oberen 30 zulassen. Und an vielen Universitäten gibt es auch noch das Thema Vermächtnisse. Wenn Sie zu einer vermögenden Familie gehören und Ihre Eltern der Universität viel Geld spenden, erhalten Sie einen Studienplatz. Es gab in dem System viel Ungerechtigkeit. Durch digitales Lernen können wir großzügiger sein und alle Bewerber zulassen, die das Rüstzeug mitbringen, den Studiengang erfolgreich abzuschließen. E-learning verändert den Selektionsprozess und wir lassen viel mehr Bewerber zu.
Ein weiteres Beispiel, wie digitales Lernen es Bewerbern leichter macht, an einer Universität angenommen zu werden, sind die zulassungsfreien Micromasters und Microbachelors. Beispielsweise kann sich jeder in den Micromasters in Supply Chain Management vom MIT einschreiben, auch ohne am MIT angenommen zu sein. Per Mausklick ist man eingeschrieben und kann kostenfrei mit dem Lernen beginnen. Wenn einem das Studium zusagt und man glaubt, bestehen zu können, kann man eine Prüfung ablegen und bekommt ein Zertifikat. Erst für die Prüfung fallen Kosten an. Ich glaube, es sind 1000 oder 1200 Dollar.
Was dann passiert, ist, dass sich das MIT Ihre Leistungen im Micromasters ansieht und wenn Sie gut abgeschnitten haben, verbessert sich Ihre Chance, am MIT angenommen zu werden, da das MIT nun weiß, dass Sie bereits in einem MIT-Programm erfolgreich waren.
Wird in Zukunft dann nicht jeder in Harvard, Oxford oder am MIT studieren wollen? Werden die anderen Universitäten absterben?
Ich glaube nicht, dass dergleichen geschehen wird. EdX bietet mittlerweile beinahe 200 Online-Abschlüsse an. Obwohl die Abschlüsse für Kursteilnehmer weltweit offenstehen, kommen die meisten immer noch aus geografisch ähnlichen Regionen.
Menschen aus Texas und Umgebung entscheiden sich signifikant häufiger für UT Austin als für andere Universitäten. Ich glaube, dass sich Menschen von Universitäten in ihrer Nähe angezogen fühlen. Zudem ist jede Universität anders. Universitäten unterscheiden sich in ihren Aufnahmebedingungen, ihrem Studienangebot, der Unterrichtssprache und dem Lehrstil. Die Auswahl der Uni wird daher von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst.
Ich bin ziemlich sicher, dass die Zukunft für Universitäten überall auf der Welt positiv aussieht, solange die Universitäten das Thema Blended Learning nicht verschlafen und sich untereinander vernetzen.
Lassen Sie uns Zeitungen als Beispiel nehmen. Gibt es in unserem digitalen Zeitalter nur noch ein oder zwei große Zeitungen, die von allen gelesen werden? Das Gegenteil ist der Fall! Heute schreiben und bloggen mehr Menschen im Internet, als es vor 20 Jahren Journalisten gab!
Wird es in Zukunft nur noch einige wenige Star-Dozenten geben, deren Kurse von Millionen Menschen besucht werden, während die anderen Dozenten arbeitslos werden?
Ich stimme dem ersten Teil Ihrer Aussage zu, aber nicht dem zweiten. Auf EdX haben wir bereits heute einige Kurse, die von berühmten Professoren gelehrt werden und eine Millionenzuschauerschaft erreichen.
Beispielsweise haben wir einen Einführungskurs ins Programmieren von Prof. David Malan von der Harvard Universität, an dem bereits 5 Millionen Lerner aus der ganzen Welt teilgenommen haben. Auch die Einführung in Python und informatisches Denken von John Guttag und Eric Grimson vom MIT wurde von Millionen Studierenden angesehen.
Ich glaube jedoch nicht, aber diese Star-Dozenten den Markt für Pythonunterricht monopolisieren. Es besteht eine so hohe Nachfrage nach Pythonprogrammierung, dass zehntausende Pythonlehrer überall auf der Welt gebraucht werden. Einige lehren in Unternehmen, andere an Schulen und Hochschulen, wieder andere erteilen Privatunterricht. Für verschiedene Lerner braucht es verschiedene Lehransätze. In vielen Fällen steigern die Star-Kurse sogar die Bekanntheit des Themas, so dass noch mehr Nachfrage entsteht.
Verändert sich die Rolle von Dozenten immer mehr dahingehend, dass Dozenten eher zu Kuratoren von MOOCs werden?
Ich glaube, es ergeben sich viele Rollen für Dozenten. Bevor es MOOCs gab, machte ein Dozent alles. Er schrieb das Lehrbuch, hielt die Vorlesungen, korrigierte die Hausaufgaben, übernahm die gesamte Administration und schrieb obendrein noch die Marketingtexte für die Kurswebsite.
MOOCs und digitale Technologien zeigen uns jetzt, dass Lehren ein Teamsport ist. Hierin liegt eine der größten Lektionen, die ich selbst bei EdX lernen durfte. Nehmen Sie meinen Kurs über Schaltkreise als Beispiel. Er wurde über die letzten zehn Jahre auf EdX von über einer Million Lernern besucht. Die Kursproduktion war eine absolute Teamleistung. Ich erstellte viele der Lehrvideos. Ein Kollege erstellte eine ganze Simulationsengine. Ein anderer Kollege erstellte viele der Hausaufgaben. Wieder ein anderer Kollege entwickelte eine numerische Mathematikengine. Es gab viele Lehrassistenten, die die Lerner in den Foren betreuten und ihnen Fragen beantworteten. Außerdem waren mehrere E-Learning-Spezialisten an der Kursproduktion, Videobearbeitung und Entwicklung des gesamten “Look and Feel” des Kurses beteiligt.
Was sind die größten Nachteile von E-Learning und wie kann E-Learning diese Nachteile überwinden?
Einer der Hauptkritikpunkte an MOOCs war immer die hohe Abbruchquote. Vor etwa einem Jahr hat sich EdX mit 2You zusammengetan. 2You bringt das Element des Live-Supports bei EdX ein. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Hausaufgabe aus dem MOOC nicht eingereicht und jemand von der Kursplattform ruft Sie an und fragt Sie: “Wir haben gesehen, dass Sie Ihre Ausgaben nicht eingereicht haben. Was ist los?” Diese Art Intervention kann das Engagement der Kursteilnehmer ganz beträchtlich steigern.
MOOCs in Verbindung mit Live-Kontakt skalieren nicht nur den Zugang, sondern auch die Ergebnisse.
Einige Lerner werden die Kurse immer abbrechen, aber wir wirken dem entgegen, indem wir Live-Support anbieten.
Hilft E-Learning, Ungleichheiten im Bildungssystem zu überwinden, oder vertieft es die Ungleichheiten sogar noch?
Immer, wenn eine neue digitale Technologie auf den Markt kommt, haben zuerst die Reichen Zugang. Als Mitte der Achziger Jahre die ersten Mobiltelefone auf den Markt kamen, waren sie groß und sperrig und nur wohlhabende Menschen konnten sie sich leisten. Ähnlich verhielt es sich mit Mikrowellen. Fast alle Technologien und Innovationen können am Anfang nur von Reichen gekauft werden. Dann sinken jedoch die Kosten, weil sich die Technologie weiterentwickelt und die Produkte werden reif für den Massenmarkt. Heute hören sogar Fahrer von Fahrradtaxis in Indien Musik auf ihren Smartphones.
Durch E-Learning im Hochschulbereich werden massenhaft Daten von Studenten gesammelt. Wie lässt sich Datenschutz gewährleisten?
Ich glaube, wir haben die Schlacht bereits verloren. Alles ist bereits in der Welt. In Zukunft werden viele unserer sensiblen Daten geteilt werden, ob es uns gefällt oder nicht. Die Gemeinschaft wird hiervon übrigens sehr profitieren.
Das bedeutet aber nicht, dass wir keine angemessenen Maßnahmen ergreifen sollten, um die Daten der Lernenden zu schützen.
Wir bei EdX registrieren jeden einzelnen Mausklick, den ein Lerner macht. Wir besitzen das Big Data des Lernens.
Dadurch können wir viel darüber lernen, wie Menschen Wissen erwerben, und wir wollen diese Daten zum Guten nutzen. Unsere Datenschutzbestimmungen sagen, dass wir die Daten niemals an Dritte verkaufen. Wir benutzen die Daten zu Forschungszwecken, um Lernerfolge zu verbessern, aber wir verkaufen keine Daten an Dritte. Das kann man von Verbraucherdaten im Einzelhandel nicht sagen. Wir halten uns an Standards wie die DSGVO und viele weitere internationale Standards, die gegenwärtig im Entstehen sind.
Wie genau nutzen Sie die Daten?
Ich werde Ihnen zwei Beispiele geben. Anfangs waren die Videovorträge in den MOOCs sehr lang, zum Beispiel eine Stunde, weil wir das im Vorlesungssaal so machten. Dann hatten wir bei EdX einen Forscher namens Philipp Guol, der 5 Millionen Video-Sessions auswertete. Er untersuchte die Länge der Videos und die Bindungszeit und machte eine Entdeckung:
Die optimale Videolänge beträgt 6 Minuten. Sobald ein Video länger als 6 Minuten dauert, klicken Leute weg.
Einstündige Vorlesungen werden von Studenten nur ein oder zwei Minuten lang angesehen. Wenn das Video aber 6 Minuten lang ist, bleiben die Leute auch 6 Minuten dabei.
Wir hatten auch einen Kurs, bei dem ab einem bestimmten Zeitpunkt fast niemand mehr zuschaute. Die Teilnehmerzahl fiel steil ab wie ein Kliff. Wir sprachen darüber mit dem Kursleiter und er erkannte, dass an dieser Stelle eine Erklärung eher schlecht gewählt war. Nachdem sie die Erklärung sehr klar und deutlich gemacht hatten, verschwand dieses Kliff und mehr Teilnehmer sahen das Video bis zum Schluss an.
Dies sind Beispiele, wie wir Big Data nutzen, um Lernen auf verschiedene Weisen zu verbessern. Wir stellen Universitäten diese Daten unter strengen Richtlinien zu Forschungszwecken zur Verfügung.
Was ist mit den Persönlichkeitsrechten von Lehrpersonal, das die MOOCs erstellt? Wie ethisch ist es, wenn eine Universität einen MOOC mit einem Professor aufnimmt und den MOOC dann für eine andere Universität lizensiert? Vielleicht hätte es der Professor abgelehnt, an dieser Universität zu lehren. Der Professor verliert die Kontrolle, wo der MOOC am Ende gezeigt wird.
Das sind sehr gute ethische Fragen. Ethik und Digitalisierung müssen Hand in Hand gehen. EdX empfiehlt Universitäten und Professoren, die Rechte zu teilen. Jeder Erlös, den die Universität mit dem MOOC erzielt, wird mit dem Professor geteilt. MIT zum Beispiel folgt der Leitlinie des geistigen Eigentums, dass der Erlös aus veröffentlichten Kursen mit den Professoren geteilt wird. Die meisten unserer Universitäten tun dies. Und wenn ein Professor einen Kurs erstellt, ist es, als würde er ein Lehrbuch schreiben. Sobald man ein Buch veröffentlich hat, kann man nicht mehr verhindern, dass es gekauft wird. Das Wissen ist dann in der Welt. Ich schlage vor, wenn Sie nicht möchten, dass Ihnen auf der ganzen Welt zugehört wird, sollten Sie zurückgezogen an einem provinziellen College lehren und sich von digitaler Lehre fernhalten.
Brauchen wir noch traditionelle Bildungsabschlüsse, oder werden neue Arten von Credentials benötigt, insbesondere für lebenslanges Lernen und bei beruflichen Weiterqualifizierungen?
Sowohl als auch. Ich glaube, dass traditionelle Abschlüsse weiterhin eine große Rolle spielen. Auch heute noch sind sie der schnellste Weg, soziale Mobilität zu erreichen, egal wo auf der Welt man lebt.
Aber braucht man für Upskilling und Reskilling einen ganzen Abschluss? Nein! Prompt Engineering beispielsweise lässt sich in einem kurzen Online-Kurs lernen.
Ich glaube, Menschen werden sowohl traditionelle Abschlüsse, als auch alternative Credentials erwerben wollen, insbesondere im Berufsleben. Wie Sie wissen, bin ich ein großer Freund von “modular und stapelbar”. Was, wenn man die alternativen Credentials ebenfalls wie Legoblöcke aneinanderreihen und stapeln könnte? Für sich genommen, wäre jedes Credential so modular wie ein Legoblock, aber man könnte sie aufeinanderstapeln, um einen vollen Abschluss zu erlangen. So könnte die Zukunft des Lernens meiner Einschätzung nach aussehen.
Was sind Ihre Gedanken zu KI und E-Learning?
Künstliche Intelligenz gibt es schon lange. Bevor ich EdX gründete, war ich Direktor von CSAIL, dem Labor für Informatik und künstliche Intelligenz des MIT. Viele herausragende Wissenschaftler arbeiten seit geraumer Zeit an KI, Machine Learning, Robotik und so weiter.
Heute zeigt uns Chat GPT, dass KI endlich mainstreamtauglich geworden ist. Ich glaube, dass generative KI in kurzer Zeit so ziemlich alles transformieren wird. Egal ob Medizin, Bildung oder Wissen – jeder Bereich wird durch KI vollkommen transformiert werden.
Bei EdX experimentieren selbst mit mehreren Technologien aus dem Bereich KI. Zum Beispiel nutzen wir eine KI, um das Help Desk für Lerner zu verbessern. Ein menschlicher Mitarbeiter hat nur ein begrenztes Gedächtnis, aber eine KI erinnert sich an alles.
Wie kann man verhindern, dass KI von Schülern und Studenten benutzt wird, um Hausarbeiten zu schreiben?
Das sind schwierige ethische Fragen. Meiner Ansicht nach sollten wir KI wie einen Taschenrechner behandeln. Als ich aufs College ging, benutzten wir zum Rechnen noch Rechenschieber. Als Taschenrechner auf den Markt kamen, war der erste Reflex von Universitäten, Taschenrechner zu verbieten. Eine schlechte Idee, eine sehr schlechte Idee! Taschenrechner entlasten uns, so dass wir uns auf andere Dinge konzentrieren können.
In der gleichen Weise bin ich der Meinung, dass wir KI als Werkzeug behandeln und uns auf die Frage konzentrieren sollten, wie wir dieses Werkzeug am besten einsetzen können.
KI wird ein großer Gleichmacher sein.
Ich zum Beispiel bin nicht besonders gut im Schreiben von Aufsätzen. Mit Prompt Engineering kann man Chat GPT dazu bringen, einen perfekten Aufsatz zu schreiben. Chat GPT schafft also gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Menschen, die gut schreiben können und Menschen, die zwar gut denken, aber nicht gut schreiben können. Davor hatten Taschenrechner schon Wettbewerbsgleichheit zwischen Menschen hergestellt, die über ein großartiges Gedächtnis verfügen, und Menschen, die über kein großartiges Gedächtnis verfügen.
Kritiker befürchten, die menschliche Denkfähigkeit könnte verkümmern, wenn Menschen KI benutzen.
Ich glaube, dass KI in vieler Hinsicht mit einem Taschenrechner vergleichbar ist. Gleichzeitig ist KI viel mächtiger und vielseitiger. Wenn es um Taschenrechner geht, so glaube ich nicht, dass sie zu einer Abnahme menschlicher Denkfähigkeit geführt haben. Menschen denken jetzt einfach über andere Dinge nach. Ich zum Beispiel brauchte mein Gedächtnis nicht mehr, um mir Tabellen zu merken. Stattdessen beschäftigte ich mich damit, wie man den Taschenrechner benutzen kann, um Gleichungen höherer Ordnung zu erstellen.
Mit Chat GPT wird es ähnlich sein. Vielleicht wird es einige Aspekte menschlichen Denkens und Gedächtnisses ersetzen. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir auch in Zukunft denken werden. Vor allem übergeordnetes Denken, d.h. Denken auf einer höheren Ebene, wird wichtiger werden.
Was ist Ihrer Erfahrung nach die beste Struktur für einen Online-Kurs?
Ich glaube, es gibt keine beste Struktur. Unterschiedliche Kurse können unterschiedlichen pädagogischen und didaktischen Ansätzen folgen.
Mein bevorzugter Ansatz, der auch wissenschaftlich gesehen sehr gute Ergebnisse liefert, ist Active Learning.
Der alte Ansatz war, dass die Vorlesung eine Stunde dauert und dann ist man fertig. Gemäß Active Learning dauert eine Lerneinheit einige Minuten, dann stellt man eine Frage, damit die Kursteilnehmer das Gelernte sofort anwenden können. Der Wissenstransfer und die Ansprache der Lerner sind immer verschachtelt und verzahnt. Die EdX-Plattform ist gemäß den Prinzipien des Active Learning aufgebaut.
Es gibt jedoch viele Lernansätze, die erfolgreich sein können. Viel erfolgreicher als einstündige Videos.